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Editorial
Lob des unprofessionellen Verstehens

Die meisten Patienten, die mit schweren seelischen Belastungen in die Therapiecamps der Stiftung Auswege kommen, fühlen sich dort verstanden – jedenfalls besser als von professionellen Psychologen und Psychotherapeuten, bei denen sie zuvor Hilfe gesucht hatten. Wie kann das sein, wo in den Camps doch meist nur psychologische Laien im Einsatz sind?

Ein Ereignis wissenschaftlich zu erklären heißt, es aus empirisch bestätigten Gesetzmäßigkeiten herzuleiten – wobei zur Bestätigung ausschließlich wissenschaftlich anerkannte Methoden zulässig sind: im Fall der akademischen Psychologie systematische Beobachtung von objektiven, messbaren Tatsachen, außerdem Befragungen, Tests und Experimente mit quantifizierbaren Ergebnissen.

Die meisten Handlungen, die ich als Laie verstehe, versteht mein Psychologe ebenfalls, wenn auch manchmal anders als ich. Darüber hinaus versteht er vermutlich weitere, deren Beweggründe unsereinem schleierhaft sind. Bloß: Wie versteht er sie? Beschränkt er sich dabei auf reine Wissenschaft, mit der er während seiner akademischen Ausbildung vertraut gemacht wurde? Oder schöpft er, ob er dies nun zugibt oder nicht, aus denselben anrüchigen Erkenntnisquellen, derentwegen er uns als stümperhafte „Küchenpsychologen“ zu belächeln gelernt hat: Lebenserfahrung, Intuition und Empathie?

Es geschah aus Liebe

Um das herauszufinden, würde ich ihm drei Fragen stellen: „Warum bewahrt jemand einen Zigarettenstummel jahrzehntelang in einem Glasbehälter auf seinem Nachttisch auf?“, „Warum verbrennt jemand kistenweise all seine Lieblingsbücher?“ und „Warum äußert jemand: ’Die werden heute abend knapp reichen?’“ Das erste tut ein Bekannter von mir. Das zweite hat im Jahre 1547 eine berühmte historische Persönlichkeit getan: ein französischer Apotheker und Arzt, der als visionärer „Nostradamus“ Weltruhm erlangte. Das dritte trug sich kürzlich in einer Konditorei zu. In jedem Fall lautet die Begründung: Es geschah aus Liebe. Mein Bekannter tut es, weil die Kippe die letzte war, die seine Frau ausdrückte, ehe sie starb; am Filter kleben noch Reste ihres Lippenstifts. Nostradamus tat es, weil die Bücher allesamt als „ketzerisch“ verboten waren; er befürchtete, die Inquisition könnte deren Versteck entdecken, ihn deswegen hinrichten – und damit seine zweite Frau ins Unglück stürzen, die er gerade erst geheiratet hatte. „Die werden heute abend knapp reichen“: Das hörte ich neulich eine ältere Dame sagen, die vor mir an der Verkaufstheke einer Konditorei stand; sie ließ sich 40 hausgemachte Trüffelpralinen in ein Plastiktütchen stecken. Während die Verkäuferin eine Kugel nach der anderen mit einer Zange eintütete, entfuhr ihr ein „Oha!“, was die Kundin ebenso laienpsychologisch wie blitzschnell verstand: Sie erfasste, dass sich die Verkäuferin über die unüblich große Anzahl Pralinen wunderte, und fühlte sich dazu aufgefordert, sich zu rechtfertigen. Die Verkäuferin wiederum verstand in Sekundenbruchteilen, dass die Süßigkeiten offenbar als Präsent für mindestens eine Person gedacht gedacht waren, die der Kundin besonders viel bedeuteten, sonst gäbe sie wohl kaum 25 Euro dafür aus. Und so bot sie an: „Soll ich sie Ihnen als Geschenk verpacken?“ Darüber hinaus erspürte sie intuitiv, dass die Kundin gerne mit ihr über den Anlass des Geschenks geplaudert hätte – warum sonst wies sie ungefragt, und scheinbar überflüssigerweise, auf heute abend und eine mutmaßliche Pralinenknappheit hin? Und möglicherweise gingen der Verkäuferin mehrere laienpsychologische Hypothesen durch den Kopf, die zwar alles andere als evidenzbasiert, vermutlich aber trotzdem nahe an der Wahrheit waren: Trifft die Dame heute abend jemanden, der Trüffelpralinen über alles liebt und gar nicht aufhören kann, sie zu futtern, sobald er welche vor sich liegen hat? Ihren neuen Freund? Eines ihrer Kinder samt Enkelkindern?

Käme ein professioneller Psychologe darauf? Wenn ja, auf welchem Weg?

„So allgemein kann ich das unmöglich sagen“, würde er voraussichtlich einräumen. „Die Psychologie kennt in der Regel nur statistische Wahrscheinlichkeiten.“

„Nun gut, dann stützen Sie sich meinetwegen auf diese“, würde ich einwilligen. „Aber bitte ausschließlich darauf.“

PSYCHO Wie Laien beh - Troesten shutterstock_238722538Er versteht – bloß wie?

Nun hätte er ein Problem. Denn weltweit dürfte bislang keine einzige wissenschaftliche Studie über empirische Zusammenhänge von Lieblingsbücherverbrennungen, Kippenkonservierungen und Trüffelpralinenkäufen mit bestimmten Motiven stattgefunden haben. Aber selbst wenn bereits Hunderte vorlägen - sie wären meinem Psychologen keinerlei Hilfe, nicht bloß, weil die Studienergebnisse ziemlich sicher im Widerspruch zueinander stünden, weshalb „die Faktenlage ambivalent“ wäre, wie er zugeben müsste. Das größere Problem ist: Selbst wenn bei einer bestimmten Art von Handlung mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Motiv vorliegt, folgt daraus nicht, dass jeder von uns, oder zumindest dieser bestimmte Mensch hier und jetzt, höchstwahrscheinlich deswegen so handelt – und morgen am selben Ort oder anderswo genauso handeln würde, falls das gleiche Motiv fortbesteht. In seinem speziellen Fall – und Individuen liefern, zum Ärgernis von Generalisten, grundsätzlich nur Einzelfälle - ist es vielmehr äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht gar ausgeschlossen. Was auch immer er tut, es geschieht vor dem Hintergrund eines jeweils ganz individuellen Systems von Überzeugungen, Wünschen, Neigungen, Absichten, früheren Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen; vor dem Hintergrund seiner einmaligen Lebensgeschichte, bestimmter historischer Gegebenheiten und der jeweiligen Situation, an der übrigens im Alltag häufig ein bis mehrere weitere Individuen beteiligt sind, auf deren unberechenbares Mitwirken er ebenso unberechenbar reagiert. So kommt es, dass Menschen Menschenwissenschaftler penetrant ärgern, indem sie mit allergrößter Wahrscheinlichkeit etwas statistisch äußerst Unwahrscheinliches tun. Mittels Erfahrung, Intuition und Empathie gelingt es unsereinem häufig, diese Hintergründe zu erfassen und zu berücksichtigen, wenn wir das Tun eines anderen Menschen zu begreifen versuchen. Sofern der Profi es ebenfalls begreift, so deshalb, weil er sich unserer Mittel bedient – was bleibt ihm anderes übrig? In der Praxis des Beratens und Behandelns begegnet er nicht fleischgewordenem statistischem verst 280pDurchschnitt, sondern immer nur einzigartigen Subjekten. Wer dort tätig ist, fernab des akademischen Hochschulbetriebs, für den erweisen sich vier bis sechs Studienjahre im nachhinein weitgehend als eine schweißtreibende Zeitvergeudung. Denn die Praxisrelevanz psychologischer Forschung ist erbärmlich, ihr Anspruch und Ansehen stehen in geradezu kafkaeskem Missverhältnis zu ihrer Brauchbarkeit.

Noch vertrackter wird das Problem für einen wissenschaftlichen Psychologen dadurch, dass seine sonderbaren Objekte Bewusstsein haben. Stellen wir uns eine umfassendst aufgeklärte Gesellschaft vor, die ihr gesamtes Bildungswesen, ihre Medienlandschaft, ihre Freizeitangebote rigoros dem Ideal unterworfen hat, all ihre Mitglieder laufend auf den neuesten Stand psychologischer Forschung zu bringen. Mindestens neunzig Prozent seiner freien Zeit würde der Durchschnittsbürger damit zubringen, psychologische Studien zur Kenntnis zu nehmen. (Falls er weniger Zeit dafür aufwendet, muss er zur Strafe als Proband unbezahlt bei einem psychologischen Experiment mitmachen.) Wäre dies eine Gesellschaft, in der Menschen einander weitaus besser verstehen und viel zuverlässiger voraussagen könnten, was sie tun? Wäre es eine, in der die Wissenschaft das Helfen und Heilen revolutioniert? Nur dann, wenn ihre Mitglieder bestrebt wären, sich möglichst immer so zu verhalten, wie wissenschaftliche Studien über sie nahelegen. Doch wenn sie das nicht tun wollen? Wenn es ihnen zutiefst zuwider wäre? Wenn eine außerparlamentarische Protestbewegung die große Mehrheit der Bevölkerung dazu anstiften würde, die sanfte Diktatur der Psychoexperten beharrlich zu sabotieren? Im Gegensatz zu Dingen, wie auch zu jedem Tier, sind menschliche Subjekte imstande, sich anders zu verhalten, als ein Anderer erwartet, bloß weil sie dessen Erwartungen kennen - und keine Lust zu haben, diesen zu entsprechen.

Wie malt sich ein wissenschaftlicher Psychologe das Paradies aus? Die Nachfahren von Adam und Eva kämen jedenfalls nicht darin vor. Eher schon Reiz-Reaktions-Automaten.
                             
Wie malen Sie sich schöne Weihnachtstage aus? Ob christlich oder nicht: Vermutlich möchten Sie gerade dann von lieben Menschen umgeben sein, von denen Sie sich verstanden fühlen. Dass dies notfalls auch ganz unwissenschaftlich passiert, wünscht Ihnen, im Namen des “Auswege”-Teams, schon jetzt, weil diese Newsletter-Ausgabe die letzte vor Jahresende ist,


Ihr
Unterschrift_HW_200p Higrund weiss                                                                                                                           

ausw-buch 150pP.S.: Warum wissenschaftlich ausgebildete Psycho-Experten im allgemeinen uns Laienpsychologen keineswegs überlegen sind - im Gegenteil -, erläutert ein längeres Kapitel in unserem kürzlich erschienenen Buch Auswege – Kranken anders helfen (re.: Cover).







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