Kindeswohl vor Elternrecht
Ohne Schulmedizin ins Gefängnis?


i-u-s hamm 250pMüssen Eltern ihre Kinder schulmedizinisch behandeln lassen? Zwei, die sich weigerten, hat der Bundesgerichtshof für drei Jahre ins Gefängnis geschickt. Ein Skandal? Nein, ein notwendiges Urteil, zumindest im betreffenden Fall.

Zwölf Jahre war Kilian alt, als seine Mutter Susanne B., damals 33, mit ihm und zwei Geschwistern zu ihrem neuen Lebensgefährten Gerhard L. in Lonnerstadt bei Erlangen zog: einem Mann, zu dessen Weltanschauung es gehört, ohne Schulmedizin auszukommen; stolz lebte er mit einem nichtoperierten Leistenbruch lebte. Schon damals war Kilian schwerkrank: Er litt an Mukoviszidose, einer genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung, bei der zähflüssiger Schleim Lunge, Bauchspeicheldrüse, Gallenwege und andere lebenswichtige Organe verstopft. Mama und Stiefvater erlaubten ihm, die verordneten Medikamente abzusetzen, und brachten ihn nicht mehr zum Arzt, womit sie seinen „freien Willen respektiert“ hätten. Stattdessen sollten Fasten und Meditieren das Kind heilen. „Wenn ich das mitmache, so hieß es, sei ich mit 17, 18 geheilt“, berichtet Kilian.

Darüber sei er zunächst froh gewesen, sagt Kilian heute. Doch ohne Arzneimittel verschlechterte sich sein Zustand rapide. Ständig hatte er Kopfschmerzen, bei der kleinsten Bewegung bekam er kaum noch Luft. In den darauffolgenden drei Jahren magerte auf 30 Kilo ab – dann flüchtete er zu seinem leiblichen Vater, der umgehend dafür sorgte, dass Kilian wieder schulmedizinisch versorgt wurde. Langsam erholte er sich, doch seine Lunge war schon irreparabel geschädigt.

Zehn Jahre später, inzwischen 25, reichte Kilian Klage gegen Mutter und Stiefvater ein – denn „ich will nicht, dass Anderen so etwas geschieht wie mir“. Das Landgericht Nürnberg-Fürth gab ihm recht: Das Verhalten des Paars gegenüber dem minderjährigen Jungen sei als „bedingt vorsätzliches Quälen durch Unterlassen“ zu werten. Weil Kilian damals die Folgen seines Therapieabbruchs nicht habe überblicken können, hätten die Eltern ihn „notfalls auch gegen seinen Willen“ mit Medikamenten versorgen und zum Arzt schicken müssen.

Dagegen ging das Paar in Berufung: Kilian sei von ihnen zu nichts genötigt worden, er habe frei entscheiden können.

Damit unterlagen sie im August vor dem Bundesgerichtshof (BGH). Eltern seien Garanten für das Wohl ihres Kindes, argumentierten die Richter. Zwar hätten die Angeklagten den Jungen nicht aktiv gequält – anderseits hätten sie nichts für seine Heilbehandlung unternommen, womit sie ihm schweres Leid zufügten. Ohne weitere Behandlung hätte die Krankheit "bald zum Tode geführt", so die BGH-Richter. Damit hätten sie „in der Erziehung komplett versagt“, sich schuldig gemacht, drei Jahre Haft seien dafür angemessen (Az. 1 StR 624/14).

Ein Skandalurteil? Darf der Rechtsstaat Eltern zwingen, gegen eigene Überzeugungen ihre Kinder der Schulmedizin auszuliefern, mit all ihren Risiken und Nebenwirkungen? Zumindest im betreffenden Fall: Ja, er sollte es. Zwar zählt Mukoviszidose zu jener Vielzahl chronischer Erkrankungen, welche die konventionelle Medizin nicht heilen kann – weshalb Eltern verständlicherweise nach Auswegen außerhalb von Arztpraxen und Kliniken suchen. Immerhin liegen inzwischen aber Medikamente vor – insbesondere ständig verbesserte Verdauungsenzyme und Antibiotika -, die in Verbindung mit Gymnastik und Inhalationen die Lebenserwartung von Muko-Betroffenen deutlich verlängern und ihre Lebensqualität erheblich erhöhen. Ende der dreißiger Jahre lag ihr mittleres Überlebensalter noch bei einem Jahr, um 1970 bei zehn Jahren – inzwischen bei deutlich über 30 Jahren. 2012 wurde das erste Medikament zugelassen, mit dem zumindest bei einem kleinen Teil der Patienten die Mukoviszidose ursächlich behandelt werden kann. Wer auf diese Chance verzichtet und ausschließlich auf „Alternativ“medizin setzt, handelt verantwortungslos, egal wie wohlinformiert er sich wähnt.

Nicht von ungefähr verpflichtet der Ehrenkodex der Stiftung Auswege/IVH alle von ihr vermittelten Therapeuten darauf, „nicht in Konkurrenz zu ärztlichen Maßnahmen“ zu arbeiten, „sondern komplementär, in Ergänzung. Dies schließt ein: Ich vermeide alles, was einen Hilfesuchenden veranlassen könnte, ärztliche Konsultationen/Behandlungen hinauszuzögern oder zu unterlassen, zu unterbrechen oder abzubrechen. Ich (...)  enthalte mich jeglichen Ratschlags, Arzneimittel abzusetzen oder anders einzunehmen als ärztlich verordnet.“ Auch in den Therapiecamps der Stiftung Auswege ist kein Teilnehmer je davon abgehalten worden, zum Arzt zu gehen. Nicht Grabenkämpfe zwischen Ideologen zweier rivalisierender Medizinsysteme, der „offiziellen“ und der „anderen“, brauchen wir, sondern eine Integrale Heilkunde, die das Beste aus unterschiedlichen Ansätzen undogmatisch zusammenführt, wie wir in unserem soeben erschienenen Buch „Auswege – Kranken anders helfen“ mit Nachdruck fordern.

Die Eltern „wollten das Wohl ihres Kindes mit abstrusen Mitteln erreichen, aber sie wollten immer noch sein Wohl", sagte die Anwältin der Mutter. In der Verantwortung für das eigene Kind sind beste Absichten aber nicht immer genug.


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