Wenn eine Diagnose herbeigetestet wird: Zum „Autisten“ abgestempelt – im Auswege-Camp keine Spur davon
Mit testpsychologisch bestätigtem „Autismus“ kam der 14jährige Martin (Foto re.; Pseudonym) ins jüngste Therapiecamp der Stiftung Auswege. Zu Beginn erwies er sich dort als überaus schüchtern, unsicher, verschlossen, still; doch im Campverlauf blühte er auf, suchte Sozialkontakte – keine Spur von krankhaften Verhaltensauffälligkeiten. Schon in früheren Camps hatten ähnliche „Autismus“-Fälle unter unseren Therapeuten für fassungsloses Kopfschütteln über angeblich „wissenschaftlich fundierte“ Psychotesterei und voreilige Schlüsse daraus gesorgt. Schlimmstenfalls werden solche von psychometriegläubigen „Experten“ verpassten Etikettierungen zu fatalen Prophezeiungen, die sich selbst erfüllen.
Mit zehn Jahren war dem Jungen von einer Kinderklinik im Allgäu eine „emotionale Störung“ bescheinigt worden, woraus dort im Februar 2014 die Diagnose „Autismus“ wurde. Nicht weniger als sechs verschiedene psychologische Tests hätten nämlich „auffällige Ergebnisse“ gezeigt, wie drei Ärzte und eine Psychologin in ihrem gemeinsamen Befundbericht darlegen: unter anderem eine „schwere Beeinträchtigung der wechselseitigen sozialen Interaktion, Aufzwingen von Routinen, Ritualen und Interessen, Sprech- und Sprachauffälligkeiten, nonverbale Kommunikationsprobleme sowie motorische Ungeschicklichkeit“. Alles in allem liege „eine tiefgreifende Entwicklungsstörung“ vor. Der Mutter wurde nahegelegt, für Martin einen Behindertenausweis zu beantragen.
Kaum war Martin im Camp eingetroffen, da wollte er unbedingt wieder weg. Doch schon am nächsten Tag „platzte der Knoten“, wie seine Mama in ihrem Tagebuch festhielt. Martins Verhalten während der Heilwoche veranlasste alle Therapeuten, die sich um ihn kümmerten, zu einhelligem Zweifel an der Autismus-Diagnose: Immer öfter lächelte der angeblich schwer Verhaltensgestörte andere Personen an, hielt Blickkontakt mit ihnen, umarmte sie, scherzte mit ihnen, ließ sich auf längere Gespräche ein, hörte aufmerksam zu; unsere Kinderbetreuerin hörte ihn an einem Abend „wie ein Wasserfall reden“. Wie „offenherzig“ er sich gab, versetzte seine Mutter in Erstaunen: Hier habe er „sich mehr als bisher geöffnet, seine Scheu gegenüber Fremden wurde deutlich besser. Sogar beim Tanzen mit Anderen hatte er Freude, was früher undenkbar gewesen wäre. Überall war er dabei, ohne sich abzukapseln.“
Verhaltensweisen, die von Psychologen als „autistisch“ etikettiert worden waren, stuft der ärztliche Leiter des Auswege-Camps als „Schüchternheit, geringes Selbstbewusstsein und starke Mutter-Bezogenheit“ ein – doch „im Camp taute Martin langsam auf“. Wer diese Form des „Andersseins“ als therapiebedürftig einstuft, verkennt anscheinend, dass im weiten Spektrum von Persönlichkeitszügen, die Menschen aus unterschiedlichen Gründen unterschiedlich ausgeprägt, unterschiedlich stabil entwickeln, die „Abweichung von der Norm“ eher die Norm als die Ausnahme ist.
Offenbar hatte kein klinischer Psychologe, mit dem Martin zu tun bekam, je in Betracht gezogen, dass die eingesetzten Testverfahren ihren besorgniserregenden Befund überhaupt erst hervorgebracht haben könnten. Wie finden wir heraus, welche Persönlichkeit in einem Jugendlichen am Beginn seiner Pubertät steckt, der offenbar stiller, unsicherer, vorsichtiger, ängstlicher, zurückhaltender ist als andere? Sollten wir ihn in ungewohnter Umgebung, in einem kühl-funktionalen Klinikzimmer, unter den Augen weißbekittelter, wissenschaftlich-distanzierter Mediziner mit zweifelhafter Empathie stundenlang Items auf Fragebögen ankreuzen – oder von diesen Medizinern „interviewen“ lassen, wobei ihr Blick häufiger auf die Unterlagen gerichtet ist, in denen sie die Äußerungen des Getesteten protokollieren, als auf den Getesteten selbst? Das „Auswege“-Team zieht es vor, ihm eine Umgebung zu bieten, in der er Wohlwollen, Anerkennung, Ermutigung, Geduld und liebevolle Zuwendung spürt: eine Umgebung, die seiner psychischen Gesundheit auch daheim – in der Familie, in der Schule, im Freundes- und Bekanntenkreis – förderlich wäre. Wenn in einem solchen Rahmen seine Verhaltensauffälligkeiten deutlich nachlassen oder gar gänzlich verschwinden: Sind dann nicht eher seine Lebensumstände „behandlungsbedürftig“ als er selbst?
In ihrem Bericht erwähnte die Kinderklinik „zerrüttete Familienverhältnisse nach Scheidung der Eltern, starke Disharmonie zwischen den Erwachsenen“. Auf Martins Wunsch hin besteht seit Ende 2012 keinerlei Umgang mehr mit dem Vater, zu dem er schon zuvor ein belastetes Verhältnis hatte. Beide Eltern teilen sich zwar das Sorgerecht für Martin, haben aber jeglichen Kontakt zueinander abgebrochen. Dass solche Verhältnisse ein hochsensibles Kind psychisch extrem verunsichern und belasten können, ist nachvollziehbar.
Die Zahl der Autismusfälle scheint in den vergangenen Jahrzehnten ständig angewachsen zu sein. Das US-amerikanische Center for Disease Control (CDC) gibt eine Zunahme um 57 Prozent zwischen 2002 und 2006 an; 2006 soll bereits eines von 110 Kindern im Alter von 8 Jahren betroffen gewesen sein. Experten führen diesen Anstieg vornehmlich auf drei Faktoren zurück: Die Diagnosetechniken seien „verfeinert“ worden. Der häufigere Besuch von Kindergärten und die frühere Einschulung der Kinder erhöhen zum zweiten die Chance, dass Autismus entdeckt wird. Zudem beobachten Eltern heute aufmerksamer, ob sich ihr Kind „normal“ entwickelt, und bringen es eher zum Arzt. Nicht verkannt werden darf aber, dass die „wissenschaftliche“ Definition von Autismus derart erweitert worden ist, dass immer mehr verhaltensauffällige Kinder als autistisch gelten – ähnlich wie bei AD(H)S. Der Mehrfachnutzen dieser Entwicklung liegt auf der Hand: Sie entlastet Eltern und Lehrer von Verantwortung, sie gibt professionellen Helfern zu tun. Auf der Strecke bleiben dabei die Hauptbetroffenen: Abertausende von womöglich voreilig stigmatisierten Kindern und Jugendlichen, die ihr Anderssein damit bezahlen, zum aktenkundigen „Fall“ zu werden.
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