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 Zu guter letzt
Lieber Italien oder Holland? Ein Gleichnis vom Leben mit einem behinderten Kind
Der folgende Text, leicht überarbeitet, stammt von der US-Schriftstellerin Emily Pearl Kingsley, die seit 1970 für das Team der „Sesamstraße“ schreibt, eine der weltweit erfolgreichsten Serien der Fernsehgeschichte. Ihr Sohn Jason wurde 1974 mit einer Trisomie 21, dem Down-Syndrom geboren.
Wie mag es wohl sein, ein behindertes Kind großzuziehen?
“Das kann man sich wie folgt vorstellen:
Wenn man ein Kind erwartet, so ist das, wie wenn man eine wundervolle Reise nach Italien plant. Man deckt sich mit Prospekten und Büchern über Italien ein und plant voll freudiger Erwartung die wunderbare Reise. Man freut sich aufs Kolosseum, Michelangelos David, eine Gondelfahrt in Venedig, und man lernt vielleicht auch noch ein paar nützliche Brocken italienisch. Es ist alles so aufregend.
Nach Monaten ungeduldiger Erwartung kommt endlich der lang ersehnte Tag. Man packt die Koffer, und los geht’s. Einige Stunden später landet das Flugzeug. Der Steward kommt und sagt: „Willkommen in Holland!“ Schockiert fragt man: „Holland?!? Was meinen Sie mit Holland?!? Ich habe eine Reise nach Italien gebucht. Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, nach Italien zu fahren.“ Aber der Flugplan wurde geändert. Du bist jetzt in Holland gelandet, und da musst du bleiben. Wichtig ist, die haben uns nicht in ein schreckliches, dreckiges, von Hunger, Seuchen und Krankheiten geplagtes Land gebracht. Es ist nur anders als Italien.
So, was du jetzt brauchst, sind neue Bücher und Reiseprospekte, und du musst eine neue Sprache erlernen, und du triffst andere Menschen, welche du in Italien nie getroffen hättest. Es ist nur ein anderer Ort, langsamer als Italien, nicht so spektakulär wie Italien.
Aber nach einer gewissen Zeit an diesem Ort und wenn du dich vom Schrecken erholt hast, schaust du dich um und siehst, dass Holland Windmühlen hat… Holland hat auch Tulpen. Holland hat sogar Rembrandts.
Aber alle, die du kennst, sind sehr damit beschäftigt, von Italien zu kommen oder nach Italien zu gehen. Und für den Rest deines Lebens sagst du dir: „Ja, Italien, dorthin hätte ich auch reisen sollen, dorthin hatte ich meine Reise geplant.“ Und der Schmerz darüber wird nie mehr ganz vergehen, denn der Verlust dieses Traumes ist schwerwiegend.
Aber … wenn du dein Leben damit verbringst, dem verlorenen Traum der Reise nach Italien nachzutrauern, wirst du nie frei sein, die speziellen und wundervollen Dinge Hollands genießen zu können.”
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